„Moralische Trittbrettfahrt“ ist abzulehnen

Ein Impfstoff gegen das neuartige Corona-Virus birgt viel Hoffnung. Doch es stellen sich auch moralische Fragen zur Verteilung, oder auch zur Impfpflicht. Diese Fragen beantwortet Professor Stephan Goertz, Moraltheologe an der Universität Mainz.

Frage: Um eine „Herdenimmunität“ zu erreichen, ist es notwendig, die Mehrheit der Bevölkerung zu impfen. Ist es vor diesem Hintergrund legitim, eine Impfpflicht einzuführen? 

Stephan Goertz: Aus moralischer Sicht kann man durchaus eine Impfpflicht begründen. Natürlich unter bestimmten Bedingungen: die mögliche Erkrankung muss ernsthaft sein, die Risiken der Impfung gering und der Nutzen für alle erwiesen. Sich impfen zu lassen ist dann ein Ausdruck von Solidarität. Ob man eine rechtliche Pflicht einführt, hängt auch davon ab, ob eine solche Pflicht auf Zustimmung oder Ablehnung stoßen wird. Womöglich erreicht man das Ziel, dass sich möglichst viele impfen lassen, eher mit Freiwilligkeit. Das ist dann letztlich eine Entscheidung politischer Klugheit.

Einzelne Staaten und auch die Europäische Union sichern sich durch Verträge mit Impfstoff- Herstellern bereits Millionen von Impfdosen. Ist das vertretbar? Es könnten Länder benachteiligt werden, die nicht über so umfangreiche finanzielle Mittel verfügen. 

Dass Staaten sich rechtzeitig darum kümmern, der eigenen Bevölkerung Impfdosen in ausreichender Zahl zur Verfügung stellen zu können, ist völlig legitim und auch vom Staat zu erwarten, der sich um das Wohl der Bevölkerung zu sorgen hat. Davon ist die Frage zu unterscheiden, wie sich die Staaten so koordinieren, dass niemand leer ausgeht, dem es an Macht, Einfluss oder Finanzmitteln fehlt. Klar ist: Jeder Mensch hat als Mitglied der Menschheitsfamilie als solcher Anspruch auf die medizinische Versorgung, die ihm zur Verfügung gestellt werden kann. Dies sicherzustellen, ist eine große Aufgabe der internationalen Gemeinschaft und ihrer Institutionen.

Darf Geld bei der Verteilung überhaupt eine Rolle spielen? 

Geld spielt bei dem ganzen Thema natürlich eine große Rolle. Und das ist auch völlig in Ordnung; man erforscht, produziert und verteilt einen Impfstoff nicht umsonst. Zukünftige Gewinne sind ein starker Anreiz für die Erforschung eines Impfstoffs. Wenn es dann um die Verteilung geht – national wie international – dann dürfen bestimmte Personengruppen oder Länder nicht übergangen werden, nur weil sie über weniger finanzielle Ressourcen verfügen. Das wäre mit der Idee von Gerechtigkeit nicht zu vereinbaren, wonach jeder Mensch Anspruch hat auf eine Mindestausstattung an Grundgütern. Dass dieser ethische Anspruch in der Realität oft nicht eingelöst wird, ist bekannt; aber das darf nicht dazu führen, dass man ihn fallen lässt.

Bin ich moralisch dazu verpflichtet, mich impfen zu lassen, beziehungsweise anderen den Vortritt zu lassen? 

Ja, ich würde unter den genannten Bedingungen eine solche moralische Pflicht erkennen. Darauf zu setzen, selbst geschützt zu sein, wenn möglichst viele andere sich impfen lassen, es für sich selbst aber abzulehnen – das wäre moralisches Trittbrettfahren. Dass dann unter der Bedingung von Knappheit womöglich bestimmte Personengruppen vor anderen geimpft werden, ist zulässig. Solange man sich vorher kompetent, öffentlich und demokratisch über die Kriterien der Reihenfolge verständigt hat.

Die Bundesregierung hat angekündigt, Firmen finanziell zu unterstützen, die einen Corona- Impfstoff herstellen. Allein die Firma Biontech soll zum Beispiel 375 Millionen Euro erhalten. Ist es berechtigt, einzelne Firmen in diesem Umfang zu fördern? 

Zunächst: Es ist legitim, dass Steuermittel eingesetzt werden, um die Chance zu erhöhen, dass ein Impfstoff gefunden wird. Der Staat kann kaum selbst die gesamte Erforschung und Produktion übernehmen. Wir alle haben ja ein großes Interesse daran, dass deutsche Firmen auf diesem Sektor konkurrenzfähig sind und erfolgreich agieren können. Welche Firma dann jeweils welche Unterstützung erfährt, dass muss nach transparenten und nachvollziehbaren Kriterien politisch entschieden werden. Das Ganze wird zudem durch Parlamente und im Streitfall durch Gerichte kontrolliert.

Macht es Sinn, so viel Hoffnung auf einen Impfstoff zu setzen? 

Diese Frage kann ich Ihnen als Theologe nicht beantworten; das ist eine Frage an die Fachleute, denen wir unser Vertrauen schenken müssen. Anders geht es nicht. Ohne Vertrauen setzt sich niemand in ein Flugzeug. Alles hängt daran, ob wir aus guten Gründen dieses Vertrauen aufbauen können oder nicht. In einem funktionierenden demokratischen Staat habe ich die Hoffnung, dass die Entscheidungen, die bei diesem Thema getroffen werden, rational und moralisch alles in allem verantwortbar sind und nach legitimen Verfahren erfolgen. Mir scheint ein großes Problem zu sein, dass dieses Vertrauen in unser gesellschaftliches, politisches System bei einigen nicht vorhanden ist.

Interview: Julia Hoffmann

Veröffentlicht am | Veröffentlicht in Archiv Corona